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Liebe Leserinnen und lieberLeser,
der Aufhänger für dieses Blogs ist diesmal ein ganz persönlicher. Kürzlich traf ich in meiner Mittagspause zufällig meine Freundin Annette. Eigentlich hatte ich mir nur schnell beim Bäcker gegenüber ein Sandwich holen wollen, aber nun beschlossen wir spontan, zusammen einen Kaffee trinken zu gehen. Ich kenne Annette noch aus meiner Schulzeit. Sie ist ein fröhlicher, beschwingter Mensch, immer sehr zupackend und hilfsbereit, aber an diesem sonnigen Mittag kam sie mir seltsam angespannt vor – als wäre ihr Lächeln nur eine Maske. Wir setzten uns an einen sonnigen Platz am Fenster, tranken Cappuccino und tauschten Neuigkeiten aus.
Irgendwann fragte ich vorsichtig, wie es ihr denn wirklich ginge – sie wirke so geknickt, ob denn etwas passiert sei? „Erika, du machst dir keine Vorstellungen", brach es da aus ihr heraus. „Seit Monaten habe ich in der Firma keine ruhige Minute! Ich weiß nicht, was ich falsch mache. Ständig werde ich vom Kollegen Müller angefeindet! Gestern hat er sogar versucht, mir einen Fehler unterzuschieben, den er selbst gemacht hat. Ich musste meinem Chef gegenüber erst beweisen, dass ich die Datei gar nicht geöffnet hatte, bevor er mir glaubte! Ich habe dem Müller nie etwas getan. Ich war immer freundlich. Und er arbeitet gegen mich, wo immer er kann. Was glaubst du, wie kräftezehrend es ist, das immer stumm zu ertragen?"
Angriff oder Flucht oder keins von beiden Dieses stumme Ertragen – sei es nun, weil uns keine schlagfertige Antwort einfällt oder weil wir in der Situation eingeschüchtert sind - nennt sich Impulskontrolle. Wir schreien nicht laut, wenn uns jemand in der Kantine den letzten Schokopudding wegschnappt. Wir ziehen auch nicht dem nervigen Büronachbarn unsere Tastatur drüber. Und wir rennen nicht heulend zum Chef, wenn ein Kunde oder Kollege uns unfair behandelt hat. Wir haben andere Methoden, um in solchen Situationen klarzukommen. Wir verhandeln, beschwichtigen oder ignorieren. So kommen wir durch den Alltag, ohne eine Spur der Verwüstung hinter uns zu lassen, aber auf einem bleiben wir sitzen: auf dem Stress. Der Mensch will von Natur aus angreifen oder fliehen. In beiden Situationen wird der Stress im Körper langsam abgebaut. Beim Ignorieren oder Verhandeln passiert das nicht. Meine Freundin Annette hat versucht, besonders freundlich zu ihrem Kollegen zu sein – ohne Erfolg. Sie hat versucht, ihm aus dem Weg zu gehen – schwer möglich, wenn man in der gleichen Abteilung arbeitet. Sie hat ihn auch auf sein Verhalten angesprochen – er tat so, als wüsste er nicht, was sie meint, und unterstellte ihr einen Verfolgungswahn. Alle Bemühungen, die Situation zu entzerren, scheiterten, und Annette blieb auf einem dicken Stresspaket sitzen.
Stress im Freundeskreis Noch mehr Stress entsteht, wenn in unserem privaten Umfeld, mit den Menschen, die uns wirklich wichtig sind, etwas schief läuft. Leider ist es wahrscheinlich, dass sie diese Situation kennen: Sie rufen ihre beste Freundin an oder ihren besten Freund. Sie möchten ein bisschen plaudern, hören, wie es so geht, aber ihr Gesprächspartner ist kurz angebunden. Offenbar freut er oder sie sich nicht besonders, dass sie angerufen haben. Gut, denken sie, wir haben alle viel zu tun, und die Grippe geht auch gerade um. Sie versuchen, es nicht persönlich zu nehmen, aber ein nagender Zweifel bleibt. Beim nächsten Telefonat das Gleiche. Sie beginnen, ernsthafte Zweifel zu haben. Sie überlegen, ob sie etwas falsch gemacht haben, aber es fällt ihnen nichts ein. Das Verhältnis kühlt sich ab, sie meidest den Kontakt, ihr gegenüber rührt sich nicht. Plötzlich beginnen gemeinsame Freunde Andeutungen zu machen. „Na, da hast du ja was angerichtet." Sie fragen nach, aber sie wissen nichts Genaues oder wollen nichts wissen. Die Krönung sind dann die Sozialen (oder manchmal auch asozialen) Medien. Sie lesen den Post ihres Freundes oder ihrer Freundin, in dem es um verletzte Gefühle und missbrauchtes Vertrauen geht. Ihr Stresspegel durchschlägt jede Skala, aber sie können weder angreifen noch wegrennen. Verstehen sie mich bitte nicht falsch, das ist auch gut so. Sie sollten keinen Streit vom Zaun brechen oder gar handgreiflich werden. Aber gerade weil sie das nicht handeln, weil sie ihre gute Erziehung beachtest, zahlen sie einen hohen Preis: Ihr Körper gerät in Stress.
Ihr Körper hat Mechanismen, die es ihm erlauben, in der freien Wildbahn blitzschnell zwischen Flucht und Angriff zu entscheiden, und dann alle Kraft in die Aktion zu legen. Dafür ist das Adrenalin gut, das wir in Stresssituationen produzieren. Wenn aber die Handlung ausbleibt – wenn wir weder kämpfen noch schnell wegrennen – baut sich das Adrenalin nicht richtig ab. Und wenn das häufiger geschieht, leiden wir nicht nur unter Stress, sondern auch unter körperlichen Beschwerden. Chronischer Bluthochdruck oder ein Magengeschwür sind nicht selten die Folgen von Dauerstress. Die meisten dauergestressten Menschen wissen, dass es ihnen nicht gut geht. Aber sie tun nichts dagegen. Sie fürchten sich davor, für schwach gehalten zu werden, wenn sie zugeben, sich gestresst zu fühlen.
Strategien gegen Stress Ich schlage ihnen zwei Strategien vor, wie sie ihren Stresslevel dauerhaft senken kannst. Meine erste Strategie ist Bewegung. Ich wette, das haben sie schon einmal gehört, aber die Chance ist groß, dass sie trotzdem noch zu viel auf dem Sofa sitzt. Bewege sie sich – ihrem Körper ist es egal, ob sie vor dem Säbelzahntiger davon laufen oder für den nächsten Halbmarathon trainierst. Sie bauen Stress ab. Das funktioniert übrigens auch beim Tanzen, beim Spazierengehen und sogar, wenn sie ihre Wohnung putzt. Suchen sie sich eine Bewegungsart, die ihnen wirklich Spaß macht, nur so bleiben sie dauerhaft dabei. Verabreden sie sich mit anderen zum gemeinsamen Training. Ein sanfter gesellschaftlicher Druck hilft ihnen ihre Ziele zu erreichen.
Eine meiner Klientinnen hat sich zum Beispiel einen Hund angeschafft. Sie ist gerne in der Natur, und der Hund zwingt sie dazu, dreimal am Tag an die frische Luft zu gehen. Finde hier deinen eigenen Weg.
Meine zweite Strategie für sie ist folgende: Verstehe, was in Menschen vor sich geht, die sie anfeinden. Allein aus dem Wissen ziehen sie schon einen Wettbewerbsvorteil. Gerade im beruflichen Umfeld steckt meist Unsicherheit hinter feindseligem Verhalten. Menschen, die andere angreifen, verfügen meist über ein geringes Selbstwertgefühl. Um zu meinem auslösenden Beispiel zurück zukehrten: Annette ist fachlich kompetent, hat ein selbstbewusstes Auftreten und eine humorvolle Art, die viele Menschen an ihr schätzen. Sie muss ihrem Kollegen Müller gegenüber keinerlei „feindlichen Akt" unternommen haben – ihre alleinige Existenz reicht, um Müller aggressiv zu stimmen. Müller fühlt sich bedroht, auch wenn Annette gar keine Bedrohung darstellt. Vielleicht geht es ihm selbst sehr schlecht oder er hat einen Fehler gemacht und möchte durch „Flucht nach vorne" von seiner Unzulänglichkeit ablenken. Oder Annette hat etwas an sich, das Herrn Müller an seine Exfrau erinnert – auch das reicht, um ihn auf die Palme zu bringen, ohne dass Annette etwas daran ändern kann. Herr Müller fühlt sich als Opfer, nicht als Täter, ganz egal, wie aggressiv er selbst auftritt. Dies ist ein Teufelskreis. Je mehr er den Grund für seine eigene Unzufriedenheit außerhalb von sich selbst sucht, desto machtloser fühlt er sich. Er gibt ja auch tatsächlich gedanklich Macht ab: „Ich wäre ja schon längst Abteilungsleiter, aber Annette Schulze ist neidisch auf mich und arbeitet gegen mich." Annette ist in diesem Gedankenspiel diejenige, die es schafft, Müller „klein zu halten". Klar, dass das Ohnmachtsgefühle und Stress erzeugt, die sich irgendwann Bahn brechen. Müller würde das natürlich niemals zugeben. Würde Annette ihn damit konfrontieren, würde er alles abstreiten. Er übernimmt keine Verantwortung für sein Leben und seinen Erfolg, aber das versteckt er gut. Herr Müller kommt rüber wie ein echter „Macher".
Ein kleines Mitmach-Bild für sie. Halten sie ihre Hand vor sich, Handfläche nach unten. Schließen sie locker die Finger, nur den Zeigefinger strecken sie nach vorne. Ihr Zeigefinger symbolisiert das Anklagen anderer Menschen. Jetzt drehe sie ihre Hand, sodass ihre Finger oben sind – drei Finger zeigen auf sie selbst. Wann immer jemand sie anfeindet – also mit dem Zeigefinger auf sie deutet – so deutet er gleichzeitig mit drei Fingern auf sich selbst.
Sie haben vielleicht nicht immer perfekt auf alle Anfeindungen reagiert. Der Aggressor hat aber immer den größeren Anteil an der Misere.
Internet-Trolle und der Sack Reis Das gilt vor allem dann, wenn sie sich öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt siehst. Das Internet kann manchmal ein schrecklicher Ort sein. Aggressive Menschen haben dort die perfekte Plattform: Sie haben eine Öffentlichkeit, von der sie sich Bestätigung erhoffen, vermeiden aber gleichzeitig die direkte Konfrontation – sie müssen dir nicht in die Augen sehen. Ein solches Verhalten zeugt von großer Schwäche. Sie geben, ohne es zu merken, viel Macht ab – und zwar an sie. Natürlich heißt das nicht, dass sie sich damit einfach alles gefallen lassen sollst. Es heißt nur: Greife sie erst dann zu Aktionen, wenn diese den Aufwand auch wert sind. Lange Zeit können sie nach dem „Sack-Reis-Prinzip" verfahren: „Was kümmert es mich, wenn in China ein Sack Reis umfällt?" Erst wenn der Sack Reis droht, ihr Dach zu durchschlagen, solltest sie tätig werden: wenn also ihr Gegner nachhaltig ihren guten Ruf beschädigt oder ihnen sogar Straftaten unterstellt. Dann sollten sie ihn aus der Position der mächtigeren Person heraus konfrontieren oder – auch das ist eine gute Lösung – einen Anwalt einschalten. Wichtig ist nur, dass sie sich nicht in nichtige Streitereien hineinziehen lässt, die sie nur Zeit und Kraft kosten. Wenn sie in Versuchung geraten, weil ihr Gegner sie gerade wieder richtig gestresst hat, schauen sie sich ihre Hand an – Finder locker geschlossen, nur den Zeigefinger ausgestreckt – und dann gönnen sie sich einen langen Spaziergang.
Natürlich kann kein guter Rat der Welt einen griesgrämigen Herrn Müller aus Annettes Umfeld entfernen, und er wird auch nicht wie durch ein Wunder zum Sonnenschein werden. Aber Annette kann ihm in ihrem Kopf einen neuen Platz zuweisen, einen, an dem er weniger stört – und wenn sie in die Stressfalle gerät, kann sie mit drei Fingern auf sich zeigen und mit einem auf ihn. Ich hoffe, dass ich ihnen mit dieser kleinen Ausführung ein wenig helfen konnte. Denn mit diesem Wissen können sie leichter und gelassener mit feindseligen Attacken umgehen. Falls sie noch mehr Unterstützung in solch einer Situation benötigst, rate ich ihnen, fachliche Unterstützung zu suchen.
Ich wünsche Ihnen eine glückliche und stressfreie Zeit.
Erika Thieme |
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